Glossar

Sterne

Vera Flückiger

Wie sich Seefahrende an den Sternen am Himmel orientierten, folgen seit 1856 auch Tourist:innen den Sternen in Karl Baedekers Reiseführern auf ihrer Reise durch die Schweiz. In diesem Jahr wandte Baedeker sein Bewertungssystem mit Asterisken (*) erstmals auf die Sehenswürdigkeiten der Schweiz an. Ein Jahr später erklärte er die Verwendung der sternförmigen Schriftzeichen folgendermassen: «Für Jemand, der genöthigt ist, ganz flüchtig zu reisen, ist durch ein * auf das vorzugsweise Beachtenswerthe hingedeutet.»1 Sein Bewertungssystem markierte einzelne Sehenswürdigkeiten mit einem oder mit zwei Asterisken und hob sie dadurch von den weniger lohnenswerten ab. Sehenswürdigkeiten mit zwei Asterisken galten als sehenswerter als solche mit nur einem. Die Sterne wiesen den Tourist:innen den Weg auf Berge wie die Rigi oder den Gornergrat, die nicht zu verpassen waren.

Doch Baedekers Sterne wiesen nicht nur den Weg durch die Schweiz. Sie markieren nicht nur Sehenswürdigkeiten, sondern auch die Verwandlung der ausgezeichneten Berge von Naturphänomenen in solche der Kultur.

Der asteriskos (kleiner Stern) wurde von Aristarchus von Samothrake (ca. 216-114 v. Chr.), dem Direktor der Bibliothek von Alexandria, als Markierung von Textstellen in Homers epischen Dichtungen eingeführt. In mittelalterlichen Handschriften wurden Asteriske verwendet, um auf interessante Textstellen hinzuweisen. Später dienten sie dazu, Randnotizen mit dem Text zu verbinden, auf die sie sich bezogen, woraus sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhundert die Fussnote entwickelte. Der Asterisk nahm über die Zeit unterschiedliche Formen an, bis der Buchdruck sie im 16. Jahrhundert zu fünf- oder sechszackigen Sternen vereinheitlichte.2 Auch Baedeker setzte die Asterisken in dieser Funktion als Symbol der Markierung oder des Hervorhebens ein. Gleichzeitig führte er damit ein Bewertungssystem ein.

Ein rating wie die Sterne-Bewertung im Baedeker ist ein Ordnungsprozess, der auf Vergleichen basiert. Singuläres und Ästhetisches wie Berge und Landschaften werden durch die Ergänzung um ein oder zwei Schriftzeichen in einen Vergleichszusammenhang gebracht. Die Zuschreibung einer abstrakten Kategorie wie das «vorzugsweise Beachtenswerthe» ermöglicht, den Gornergrat mit dem Pilatus oder der Rigi in einen direkten Vergleich zu bringen. Die Vergabe von keinem, einem oder zwei Sternen bringt die Berge in eine übersichtliche Bewertungsskala, welche «auf einen Blick» preis gibt, welche Gipfel vorzugsweise zu besichtigen sind.3 So holen Baedekers Sterne den Blick vom Gipfel ins Buch: A coup d’œil erschliessen sich die Dinge nicht nur vom erhöhten Standpunkt aus, sondern auch am Kartentisch und in der tabellarischen Übersicht. Baedekers Sterne verschaffen noch vor Reiseantritt einen Überblick über Überblicke.

Es stellt sich die Frage, was Baedeker mit seinen Sternen bewertete. Weshalb verlieh er dem Gornergrat und der Rigi zwei Sterne, während der Pilatus bis 1859 sternelos blieb und dann lediglich einen Stern erhielt? Die Beschreibung des Gornergrats im Baedeker von 1856 gibt Aufschluss:

Der **Gornergrat […], ein auf der Hochfläche des Riffelberges aufragender Felskamm, […] ist das eigentliche Ziel der ganzen Wanderung. Es öffnet sich hier die grossartigste Rundsicht, man ist von Schneebergen […] und Gletschern ganz umgeben. Monte Rosa und Matterhorn senden so gewaltige Ausläufer nach Norden, dass die Berge zwischen den Zwillingsthälern Visp und Saas (die Mischäbelhörner, Dom, Täscher Horn), so wie die ihnen gegenüber empor ragenden (die Gruppen der Oabelhörner, des Rothhorns und Weisshorns) mit jenen Riesen der Centralkette selbst wetteifern.4

Baedeker bewertete weniger die Berge selbst, sondern vielmehr die Aussicht, die ihre Besteigung ermöglichte. Ein Berg war damit nur so «lohnenswert» wie die ihn umgebende Landschaft. Über den Gornergrat selbst verliert Baedeker kaum ein Wort, lediglich eine Wegbeschreibung zum Gipfel findet sich seinem Reiseführer. Er beschreibt den Gornergrat als Ziel einer Wanderung, von dem aus sich die «grossartigste Rundsicht» eröffnet.5 Er schildert ausführlich, welche Täler und Gipfel in dieser Rundsicht zu sehen sind. Die Aussicht und ihre Erreichbarkeit sind zentrale Eigenschaften eines Berges. Um 1873 begann Baedeker, die Berge und die Aussicht von ihren Gipfeln gesondert zu bewerten. Der Esel, einer der Gipfel der Pilatuskette, erhielt lediglich einen Stern, die Aussicht von seinem Gipfel zwei.6

Kunst- und Kulturgeschichte haben vielfach gezeigt, dass die Wahrnehmung der Umgebung eines Berges als ästhetische Landschaft auf kulturellen Vorstellungen beruht.7 Das mittelhochdeutsche lantschaft beschrieb vom 11. bis 14. Jahrhundert territorium (Landstrich) und regio (Gegend). Erst gegen Ende des 15. Jahrhundert erhielt der Begriff eine ästhetische Bedeutung. In der Malerei im 16. und 17. Jahrhundert wurde Landschaft als Begriff für die malerische Darstellung eines Naturausschnitts verwendet. Danach begann sich das Wort auch ausserhalb der bildenden Künste für die ästhetische Betrachtung der Natur zu etablieren.8 Erst durch die Landschaftsmalerei wurde die Natur zur Landschaft. Das Landschaftsbild etablierte eine Raumbetrachtung von einem feststehenden Standpunkt aus, der sich der Zentralperspektive verdankt; die Rahmung eines Bildes fasst die Natur zu einem malerischen Ausschnitt zusammen.9 Standortfaktoren waren auch für Baedeker entscheidend: Indem er dem Gornergrat zwei Sterne verlieh und damit zugleich die von dort zu sehende Umgebung auszeichnete, schuf – und rahmte – er nicht nur eine alpine Landschaft, sondern auch Vergleichbarkeit. Dass Berge Landschaft sind und nicht nur physische Erhebungen verdankt sich Techniken wie der Malerei oder den Sternen im Baedeker.

Auch zu Aussichtspunkten, die den Blick auf «grossartige» Rundsichten freigaben, mussten Berge dabei erst werden. Vor dem 18. Jahrhundert galten die Alpen als sagenumwobene Randzone, in der es nichts zu sehen gab und die von Drachen und Geister bewohnt wurde. Noch bis zum Ende des Jahrhunderts dokumentierten die wenigsten Reiseberichte aus den hochalpinen Regionen überwältigende visuelle Erlebnisse.10 Doch im Laufe des Jahrhunderts führte ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse an den Bergen zu ihrer Erforschung: Wissenschaftler:innen wie Horace Bénédict de Saussure bestiegen die Berge und beschrieben sie detailreich. Die Pioniere des sportlichen Alpinismus – angeführt von den Briten – erklommen im 19. Jahrhundert die Schweizer Berggipfel.11

In dieser Zeit der Alpenbegeisterung entwickelten sich neue Infrastrukturen in der Schweiz und der Bergtourismus breitete sich aus.12 Die touristische Wahrnehmung und Wertschätzung der Berglandschaften als etwas Schönes ist nicht zuletzt der wissenschaftlichen und infrastrukturellen Erschliessung zuzuschreiben. Die infrastrukturelle Erschliessung der Alpen ist nicht nur ein Effekt des Alpentourismus, sondern zugleich Bedingung für die Verwandlung der Alpen von topografischen Landformen in ästhetische Landschaften. Dies zeigt das Beispiel des Pilatus. 1844 informierte der Baedeker die Reisenden darüber, dass der Pilatus selten bestiegen wird, zumal sein Ausblick dem der Rigi nachstünde.13 Die letzten zehn Minuten des Aufstieges, hiess es in der dritten Auflage von 1851, müssen «auf Händen und Füssen» hinaufgekrochen werden, ein einziger Fehltritt würde Bergsteiger:innen in einen tiefen Abgrund stürzen. Der Pilatus sei nur für schwindelfreie und geübte Alpinist:innen geeignet.14 Als 1858 ein Reitweg auf den Pilatus gebaut wurde, änderte sich Baedekers Einschätzung:

Der *Pilatus gehört jetzt ebenfalls zu den viel besuchten Berghöhen, seitdem (1858) Hr. Casp. Blättler im Rozloch mit einem Kostenaufwand von 25’000 fr. einen guten Reitweg hinauf hergestellt hat, eben so bequem als die besten Rigi-Wege […].15

Entsprechend passte er auch die Bewertung der Aussicht an:

«An der kahlen steinigen Wand des Oberhaupt führt vom Gasthof ein gut angelegter Zickzack-Weg bergan […] in 1 St. auf den Gipfel des *Esel (6552′), auf welchem namentlich die Berner Alpen grossartiger, weil der Standpunct näher, sich darstellen, als vom Rigi, und gerade s. die Wetter- und Walcherhörner, dann Eiger, Mönch und Jungfrau besonders hervortreten […]. Auf dem Grat zwischen Oberhaupt und Esel soll der Alpnacher Unternehmern ebenfalls ein Whs. aufgeführt werden. Der Weg abwärts führ hier nach Alpnach, etwas weiter als vom Klimsenhorn nach Hergiswyl.»16

Der nun einfacher zu erreichende Esel wurde für seinen Ausblick auf die Berner Alpen mit einem Stern markiert.

Baedekers Berge sind Knotenpunkte in Infrastrukturen, die Reisende mithilfe seiner Sterne navigieren. Seit der Einführung der Asterisken in den Baedeker zeigt sich auf den Gipfeln nichts mehr vom Erhabenen, das Gipfelstürmer seit Petrarca zu überkommen pflegte.17 Der Blick der alpinistischen Sternegucker:innen fällt auf Landschaften und andere Gipfel, die sie selbst wieder neben einem Asterisk in ihrem Reiseführer finden.


1 Karl Baedeker: Die Schweiz, die italienischen Seen, Mailand, Genua, Turin. Handbuch für Reisende, 7. Aufl., Koblenz 1857), IIV. Zum ersten Mal kam das Sternesystem in Baedeker Reiseführer Deutschland und der Oesterreichische Kaiserstaat von 1846 zum Einsatz. Ab 1856 nutzt er es für alle seine Reiseführer. Siehe Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frankfurt a M. 2012, S. 35).

2 Keith Houston: Shady Characters. The Secret Life of Punctuation, Symbols & Other Typographical Marks, New York 2013, S. 107–116; siehe auch Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fussnote, Berlin 1995.

3 Siehe zum rating:Bettina Heintz: «Vom Komparativ zum Superlativ. Eine kleine Soziologie der Rangliste», in: Stefan Nicolae (Hg.): (Be)Werten. Beiträge zur sozialen Konstruktion von Wertigkeit, hg. von, Soziologie des Wertens und Bewertens, Wiesbaden 2019, S. 51. Charlotte Bigg beschreibt den Erkenntnisgewinn von einem erhöhten Standpunkt aus für Panorama-Rotunde, Naturwissenschaft und Militär, siehe Charlotte Bigg: «Das Panorama, oder La Nature A Coup d’Œil», in: David Gugerli u.a. (Hg.): Bilder der Natur – Sprachen der Technik, Zürich/Berlin 2005), S. 36–38, siehe auch Lisa Cronjäger und Antonia von Schöning: «Auf einen Blick», in: Markus Krajewski, Antonia von Schöning, Mario Wimmer (Hg.): Enzyklopädie der Genauigkeit, Konstanz: Konstanz University Press 2021, S. 16–27 und Amrei Buchholz: «Mit dem Faltpanorama auf den Gipfel. Heinrich Kellers Panorama vom Rigi Berg», in: Ulrike Boskamp [u.a.] (Hg.): Verkoppelte Räume. Karte und Bildfolge als mediales Dispositiv, München: Hirmer 2020, S.147–170.

4 Karl Baedeker: Die Schweiz, die italienischen Seen, Mailand, Genua, Turin: Handbuch für Reisende, 6. Aufl., Koblenz 1856, S. 256.

5 Baedeker: Die Schweiz (6. Aufl.), S. 256.

6 Karl Baedeker: Die Schweiz, nebst den angrenzenden Theilen von Oberitalien, Savoyen und Tirol. Handbuch für Reisende, 15. Aufl., Koblenz/Leipzig 1873), S. 57.

7 Siehe David Blackbourn: The Conquest of Nature. Water, Landscape, and the Making of Modern Germany, London 2006; Antonia Dinnebier, «Der Blick auf die schöne Landschaft: Naturaneignung oder Schöpfungsakt?», in: Ludwig Fischer (Hg.): Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004, S. 11–29.

8 Rainer Gruenter: «Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte», in Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975), S. 192­–130.

9  Gruenter: «Landschaft», S. 201; Ludwig Fischer, «Perspektive und Rahmung. Zur Geschichte einer Konstruktion von ‹Natur›», in: Harro Segeberg (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, München 1996, S. 73.

10 David Gugerli und Daniel Speich: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002, S. 175, 212, 214.

11 Zum wissenschaftlichen und sportlichen Alpinismus: Jan von Brevern: Blicke von Nirgendwo. Geologie in Bildern bei Ruskin, Viollet-le-Duc und Civiale, München 2012;Philipp Felsch: Laborlandschaften. Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007; Daniel Speich: «Mountains Made in Switzerland. Facts and Concerns in Nineteenth-Century Cartography», in: Science in Context 22 (2009) 3, S. 387–408.

12 Joseph Jung: Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert, Walchwil 2019, S. 17, 24.

13 Karl Bädeker: Die Schweiz. Handbüchlein für Reisende, nach eigener Anschauung und den besten Hülfsquellen bearbeitet, Koblenz 1844, S. 86.

14 Karl Bädeker: Die Schweiz. Handbuch für Reisende, nach eigener Anschuung und den besten Hülfsquellen bearbeitet, 3. Aufl., Koblenz 1851, S. 54.

15 Karl Baedeker: Die Schweiz, die Italienischen Seen, Mailand, Turin, Genua, Nizza. Handbuch für Reisende, 8. Aufl., Koblenz 1859, S. 49.

16  Baedeker: Die Schweiz (8. Aufl.), S. 50.

17 Joachim Ritter: «Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft», in: Ulfert Herlyn und Gert Gröning (Hg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung. Texte zur Konstitution und Rezeption von Natur als Landschaft, Minerva 1990, S. 23–41; Majorie Hope Nicolson: Mountain Gloom and Mountain Glory, Seattle 1997.