Glossar

Fotografieren

Marian Cramm

Fotografische Aufnahmen sind von den technischen Möglichkeiten der Kamera bedingt. Grösse und Handhabbarkeit, Design und Funktionen sowie Bildträger und Lichtempfindlichkeit sind nur einige Elemente, die sich in der Geschichte des fotografischen Apparats stets weiterentwickelt und damit das Verständnis von Fotografie und ihrer medialen Praxis massgeblich verändert haben. Mechanische Innovationen zogen immer auch Veränderung des Praxiswissens im Umgang mit Fotografie nach sich. Dabei treten das Knowing How (Wie benutze ich einen fotografischen Apparat?) und das Knowing That (Wie funktioniert ein fotografischer Apparat?) immer weiter auseinander.1 An paradigmatischen Momenten der Innovationsgeschichte des Fotoapparats wird deutlich, wie sich durch die Verdichtung und Automatisierung von Kulturtechniken zu Einzelmedien neue Kulturtechniken stabilisieren können.

Eine Daguerreotypie erforderte langes Stillsitzen. Honoré Daumier: «Position réputée la plus commode pour avoir un joli portrait au Daguerréotype», aus der Serie «Les bons bourgeois» in der Zeitschrift Le Charivari, 24. Juli 1847, Lithografie.

Das Belichten, Entwickeln und Fixieren fotografischer Bilder war zu Beginn eine aufwändige Angelegenheit. Lange Belichtungszeiten, aufwändige Entwicklungsverfahren, unhandliche Apparate und Platten führten dazu, dass das Fotografieren sich im 19. Jahrhundert vor allem im Fotostudio verortete. Eine Daguerreotypie verlangte beispielsweise eine etwa 15-minütige Belichtung der Silberplatte und somit auch stilles, unbewegliches Sitzen von der fotografierten Person. So entstand ein Unikat, das nicht reproduziert werden konnte. Aufgrund der komplizierten Handhabung der (Platten-)Kameras, dem technischen Know How sowie der Notwendigkeit eines eigenen Fotolabors war das Fotografieren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Berufsfotograf:innen vorbehalten. Durch die Erfindung des Positiv-Negativ-Verfahrens und der Möglichkeit Negative zu reproduzieren entwickelte sich die Fotografie rasant, blieb jedoch kostspielig.2

«You press the button, we do the rest» – mit diesem Slogan warb 1888 die US-amerikanische Firma Eastman Dry Plate Company (ab 1892 Eastman Kodak) erfolgreich für ihre erste Rollfilmkamera The Kodak Camera (kurz Kodak). George Eastman führte mit ihr ein industrielles Produktionssystem ein, mit dem erstmals Aufnehmen und Entwickeln einer Fotografie auseinandertraten. Es entstanden immer kleinere Apparate, welche leichter zu bedienen waren, schnellere Aufnahmezeiten ermöglichten und unauffälliges Fotografieren gestatteten.3 Das Fotografieren wurde so auf drei Gesten reduziert: «1. Pull the Cord, 2. Turn the Key, 3. Press the Button. And so on for one hundred pictures.» Eine Fotografie zu erzeugen, erforderte nicht mehr die manuelle Ausführung einer ganzen Kette von Operationen: War der ganze Film belichtet, brachte man die Kamera zu einem Filmentwicklungsdienst. Die Kamera wurde mit einem neuen Film ausgestattet zurückgegeben. Mit dem aus Karton gefertigten Modell Brownie, das 1900 auf den Markt kam und kostengünstig für nur einen US-Dollar verkauft wurde, versuchte man spezifisch Kinder als Zielpublikum anzusprechen. Fotografieren war von nun an wortwörtlich kinderleicht. Die Kamera arbeitete mit einer Blende von f/9 und einer Verschlusszeit von 1/20 Sekunde.4 So waren Schnappschüsse nur unter freiem Himmel möglich, der Spielraum für Vergrösserungen begrenzt und das Fehlen eines Suchers erschwerte die Kontrolle über den Bildausschnitt. Der Verlust an Bildkontrolle ermöglichte andererseits eine ständige Aufnahmebereitschaft. Diese Transformation der Wertigkeit der Fotografie von besonderen Anlässen zum alltäglichen Einsatz wurde durch die kostengünstige, standardisierte Verfahrensweise ermöglicht.  

«You press the button, we do the rest». Die Werbeanzeige für eine Kodak-Kamera erschien in der ersten Ausgabe von The Photographic Herald and Amateur Sportsman, November 1889.

Die Einführung der Kleinbildkamera machte das Fotografieren auch an unwegsamen Orten wie im Kriegsgeschehen oder auf Reisen möglich. Die Idee, einen 35-mm-Rollfilm in eine Kamera einszusetzten, hatte der Erfinder Oskar Barnack (1879–1936) 1913. Dieser fotografische Apparat ist heute als «Ur-Leica» (kurz für Leitz Camera) bekannt, weil sie als Grundmodell für alle Kleinbildkameras gilt. Erst 1924 wurde schliesslich die Leica I in grossen Mengen hergestellt. Der eingebaute Messsucher ermöglichte es erstmals, mit einem Auge auf das Motiv zu schauen und mit dem anderen die Umgebung zu kontrollieren, um im entscheidenden Moment zu knipsen. Die Kamera wird vor das Auge gehalten und Kamera und Blick verschaltet.

Das Bild erscheint direkt nach dem Drücken des Auslösers. Cover des Life Magazine, 27. Oktober 1972.

Mit der Erfindung der Sofortbildkamera wurde der Prozess der Bildentwicklung in den Apparat selbst verlagert. Auch wenn die ersten Sofortbildkameras – der Gründer von Polaroid, Erwin Land, stellte 1947 seine Erfindung erstmals öffentlich vor – noch einige Zwischenschritte von den Nutzer:innen forderten, wurde in den späten 1970er Jahren alles auf eine Geste reduziert und das Kameramodel One Step mit dem Werbeslogan «All you do is aim and press the shutter button. The camera does the rest.» angepriesen.5 Die durch die instantane Visualisierung ermöglichte Gleichzeitigkeit vom Ereignis und seiner medialen Repräsentation führte zu neuen Formen der sozialen Interaktion und überführte alle Prozesse der Herstellung des Bildes ins Private.

Auch die Einführung der vollautomatischen Kamera in den 1970er veränderte die Handhabung des fotografischen Apparats und das fotografische Knowing how massgeblich. Ein elektronischer Mikroprozessor ermöglichte übersichtliche Einstellungsmöglichkeiten, wie Belichtungszeit, Blende und Schärfemessung. In den 1980er Jahren wurden zunehmend Autofokussysteme in Kameras eingebaut, Sensoren übertragen darin elektronische Signale an das Objektiv, welches die für die Fokussierung zuständige Linse verschiebt. Das Gehäuse gibt dabei die Regeln zur Nutzung des fotografischen Apparats vor – gezielt wurden einzelne Aspekte und Funktionen hervorgehoben.6 Mittlerweile sind Autofokussysteme Standard in Smartphones. Der Bildschirm des Smartphones, wie er davor auch bei Spiegelreflex- und Digitalkameras eingebaut wurde, suggeriert den transparenten, unvermittelten Blick durch die Kamera – was dem Blick auf den Bildschirm entgegensteht.

Werbung für digitale Spiegelreflexkamera mit «automatischer Motiverkennung». Screenshot 15. Juni 2022, https://outletfreunde.de/canon/canon-eos-1200d-21467.html.

Bei der Kodak zeigt sich eine Verschiebung, bei der der Sofortbildkamera und der vollautomatischen Spiegelreflexkamera eine Verdichtung sowie Automatisierung von Handlungsabläufen und technischem Wissen. In allen Fällen entsteht eine Black Box: Die fotografierende Person interagiert mit einer komplexen Technik. Das Wissen von der Entwicklung der Fotos und der fotografischen Einstellungen geht in ein industrielles Produktionssystem und in automatisierte Funktionen über, in dem die einzelnen Schritte auseinandertreten. Das, was in der fotografischen Praxis erlernbar und wiederholbar ist – nach Cornelia Vismann zwei zentrale Erkennungszeichen für Kulturtechniken – verändert sich.7 Bei der Kodak und der Sofortbildkamera ist es das Wissen über den Entwicklungsprozess und die Einstellungsmöglichkeiten, welche vorgegeben werden und in die einfache Handhabung der Box übergehen. Bei der vollautomatischen Kamera ist es das Wissen über Belichtungszeit und Fokussierung, das an die Kamera übertagen und somit teilweise unsichtbar wird. Die «Eigenpraxis»8 der Dinge, welche den Handlungsradius des Subjekts vorgibt, verschiebt sich. So ermöglichte die Kleinbildkamera beispielsweise neue Aufnahmewinkel, die bis dahin mit grösseren Kameras nicht möglich war. Durch die Verschiebung von Handlungskonstellationen, Praktiken, Gesten und Wissen, weg vom fotografierenden Subjekt, werden gleichzeitig andere Verwendungsweisen der Fotografie denkbar. Das Fotografieren entwickelte sich zu einer körperlich habitualisierten Praxis, welche in alltäglichen Situationen wirksam wird. 

Die Kamera erkennt das Gesicht automatisch. Screenshot 15. Juni 2022, https://support.apple.com/de-de/HT208118.

Fotografieren als vermeintlich irreduzible Praxis ist möglich, da viele unterschiedliche Funktionen und Kulturtechniken in einem Gerät zusammenfallen. Die Apparate werden so gestaltet, dass sie vom Massenkonsument:innen möglichst leicht und ohne viel Vorwissen bedient werden und als selbstverständlich operierend wahrgenommen werden. So führt das black boxing von vielfältigen Tätigkeiten und dem Wissen um verschiedene Funktionen – knowing how – in einem Gerät, welches dadurch wiederum alltäglich und an vielen Orten einsetzbar wird, zu neuen, nebensächlich scheinenden Gebrauchsweisen. Was davor viele unterschiedliche Kulturtechniken waren (entwickeln, fokussieren, belichten, bemessen, einstellen usw.) wird als abstrakte Vorstellung «des Fotografierens» denkbar, wie sie sich in der digitalen und ubiquitären Fotografie realisiert hat. Gegenwärtig trägt fast jede Person eine Kamera in ihrem Smartphone mit sich. Ein kurzes Berühren des Auslösers reicht, um eine Fotografie aufzunehmen, meist im Modus der Vollautomatik. Nur das Geräusch des mechanischen Auslösers erinnert an die komplexen Prozesse, die der Smartphonekamera vorausgingen.


1 Siehe Sybille Krämer und Horst Bredekamp: «Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur», in: Sybille Krämer und Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München 2003, S. 11–22.

2 Für eine Kulturgeschichte der Fotografie siehe Lucia Moholy: A Hundred Years of Photography 1839–1939. Hundert Jahre Fotografie 1839–1939, Berlin 2016.

3 Siehe dazu Jean-Claude Gautrand: «Spontanes Fotografieren. Schnappschüsse und Momentaufnahmen», in: Michel Fritot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 233–256.

4 Jean-Claude Gautrand: «Spontanes Fotografieren, S. 238.

5 Zit. n. Peter Buse: The Camera Does the Rest. How Polaroid Changed Photography, Chicago 2016, S. 9. Siehe zur Geschichte der Sofortbilder auch: Dennis Jelonnek: Fertigbilder. Polaroid Sofortbildfotografie als historisches und ästhetisches Phänomen, München 2020.

6 Siehe dazu Heike Weber: «Blackboxing? Zur Vermittlung von Konsumtechniken über Gehäuse und Schnittstellen», in: Christina Bartz [u.a.] (Hg.): Gehäuse: Mediale Einkapselungen, Paderborn 2017, S. 155–176.

7 Cornelia Vismann: «Kulturtechniken und Souveränität», in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010) 1, S. 175.

8 Vismann: «Kulturtechniken und Souveränität», S. 172.